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Artikel für die Zeitschrift Lebens(t)räume: Endlich zu Hause in mir

Von Manfred Mohr

Jeder von uns verfügt über einen Ort in sich, an dem er sich behütet und geborgen fühlt: unseren Herzensraum. Treten wir zu ihm in Kontakt, spüren wir die Liebe in uns, die nur darauf wartet, von uns gefühlt und erlebt zu werden. Die Verbindung zu unsere Liebe im Herzen bringt uns zu uns selbst. Sie schenkt uns Rast und Ruhe. Sie bringt uns wieder zurück in unsere Mitte. Ist es nicht das, was wir in unserer schnelllebigen Zeit am allermeisten brauchen? Wieder bei uns, in uns, zu Hause zu sein?

Liebe verstehe ich als eine universelle Kraft, die uns allen jederzeit zur Verfügung steht. Oft hindert uns nur unser neunmalkluger Verstand daran, die Tür zum Herzen zu finden. Denn unser Herz steht immer offen und war noch nie verschlossen. Etwa so, wie in der folgenden Geschichte:

„Ein Sultan war auf der Suche nach einem neuen Berater und schickte darum eine Botschaft in sein Land, alle weisen und klugen Männer sollten sich bald an seinem Hof einfinden. Als alle eingetroffen waren, stellte er ihnen eine scheinbar unlösbare Aufgabe. Er führte sie an eine große Tür, die mit einem schweren, riesigen Schloss versehen war. Der König sprach: „Wer von euch dieses Schloss zu öffnen vermag, soll mein neues Berater sein. Es ist das größte und komplizierteste Schloss in meinem ganzen Reich!“ Die Weisen und Schriftgelehrten traten zögerlich an das Schloss heran, um es zu untersuchen. Bald schon schüttelten sie aber den Kopf und sagten, man könne es unmöglich öffnen. Der Mechanismus sei viel zu ausgetüftelt.

Die ersten begannen bereits, den Palast wieder zu verlassen, da trat Nasruddin heran. Er schaute bedächtig auf das Schloss, fummelte ein wenig an der Tür herum und zog dann kräftig an einem Griff. Und – die Tür öffnete sich. Sie war nur angelehnt gewesen, das Schloss gar nicht abgesperrt. Viele Jahre diente Nasruddin dem Sultan daraufhin als treuer Berater.“

Oft ist alles viel einfacher, als wir denken. Manchmal hindert unser Verstand uns daran, hinter den Dingen die Wahrheit zu entdecken. Die uns überlieferten Erzählungen des orientalischen Narren Nasruddin sind voll von scheinbar unsinnigen Handlungen, die aber doch zum Ziele führen. Nasruddin handelt oft unerwartet. Man könnte auch sagen, zumeist verhält er sich komplett verrückt. Und obwohl die beschriebenen Begebenheiten oft komisch erscheinen, steckt doch meist eine tiefere Weisheit darin. Was soll man also von ihm halten? Ist er nun ein Weiser oder ein Narr? Vielleicht sogar beides? Das darf ein jeder immer wieder aufs Neue entscheiden. Eine Kunst beherrscht er auf alle Fälle wie kein Zweiter: Er raubt uns den Verstand.

Denn Liebe ist zu allererst eine Sache unseres Gefühls. Lieben können wir nun einmal nur tief in unseren Herzen und nicht in unserem Kopf. Wer wirklich den Weg der Liebe beschreiten möchte, läuft darum bei jedem Schritt Gefahr, im positivsten Sinne den Verstand zu verlieren. Und das ist gut so. Je mehr wir es wagen, unseren Herzen zu folgen, desto mehr verlassen wir die sicheren Gefilde unseres analytischen Denkens.

Wer liebt, denkt nicht – und wer denkt, liebt nicht. (Oscar Wilde)

Die Liebe ist ein Geheimnis. Liebe ist das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben, was wir bisher über sie dachten und glaubten. Liebe lehrt uns das Leben selbst, wenn wir beginnen, bei uns selbst zu Hause zu sein, in unseren Herzen. Denn die wahren Antworten auf die tieferen Fragen unseres Lebens finden wir nur hier, in uns selbst.

Ich kann dir die Antwort auf alle Fragen sagen, denn sie ist mein, die Liebe. (Rumi)

Im Herzen wird die Liebe selbst zur Antwort. Weil wir durch sie lernen, unser Herz zu öffnen, uns gegenüber, wie auch dem Leben überhaupt. Selbstliebe beginnt bei uns, genau in unserer eigenen Mitte, und zwar in dem Moment, wenn wir mit einer unablässigen Tätigkeit aufhören, die uns unser Leben lang schwer beschäftigt: uns immerfort den Kopf zu zerbrechen.

Dabei unterscheide ich nicht zwischen Liebe und Selbstliebe. Die Liebe, die wir dem anderen schenken wollen, sie kann nur aus uns selbst entspringen. Wenn es uns nicht gelingt, uns selbst zu lieben, dann schaffen wir dies auch kaum einem anderen Menschen gegenüber. Liebe wird damit zur Basis für ein friedliches und glückliches Leben. Wir selbst sind es, die die Grundlage dafür in uns schaffen dürfen.

Alle Liebe dieser Welt ist auf Selbstliebe begründet. (Meister Eckhard)

Die Liebe, die wir in dieser Welt erfahren möchten, sie entspringt letztlich aus uns selbst. Jedem einzelnen von uns steht sie immerfort zur Verfügung, wenn wir in unser Herz gehen. Dabei sind die Prinzipien der Liebe völlig anders, als unser Verstand zu verstehen vermag.

Die Liebe allein versteht das Geheimnis, andere zu beschenken und dabei selbst reicht zu werden. (Clemens von Brentano)

Die Gesetze der Liebe sind durch und durch paradox. Da gebe ich etwas weg, und es kommt zu mir zurück? Wie soll das denn funktionieren? Wenn ich jemandem mein Fahrrad schenke, dann fährt er doch damit davon! Dann ist das Fahrrad doch weg! Ich vergleiche es gern mit einem Glas voll Wasser. Wenn es einfach so dasteht, passiert nichts damit. Gieße ich es stattdessen aus, verschenke es, um einem anderen Menschen damit den Durst zu löschen, spüre ich erst den Fluss des Wassers wirklich. Und ich spüre auch, wenn es wie von selbst wieder aufgefüllt wird. Jedes Mal, so oft ich es auch leere.

Ich hoffe nun, lieber Leser, dass es mir gelungen ist, dir mit diesem kleinen Text gehörig den Verstand zu rauben. Wenn nicht, dann vielleicht mit dieser letzten Anekdote unseres Helden. Denn suchen wir nicht alle, so wie er, mit Hilfe unseres Verstandes viel zu sehr in unserem Außen, statt uns stattdessen endlich einmal auch nach innen zu wenden?

„Nasruddins Nachbar war schon einiges gewöhnt, aber an einem Tag verwirrte ihn das Verhalten seines Bekannten doch sehr. Er sah Nasruddin, wie dieser auf der Straße vor seinem Haus mit gesenktem Blick sehr aufgeregt kreuz und quer herumlief. Sofort eilte der Nachbar hinzu, um zu fragen, was er den suche. Nasruddin antwortete: „Meinen Schlüssel. Ich habe meinen Hausschlüssel verloren.“ Also gesellte sich der Nachbar bei der Suche dazu. Lange Zeit suchten beide in der sengenden Mittagshitze nach dem verlorenen Schlüssel. Erschöpft sagte schließlich der Nachbar: „Wo hast du den Schlüssel denn das letzte Mal gesehen? Vielleicht können wir die Suche eingrenzen.“ Nasruddin antwortete: „Zuletzt habe ich den Schlüssel irgendwo im Haus hingelegt.“ Der Nachbar fragte daraufhin entsetzt: „Ja, um Himmels willen, warum suchst du denn nicht dort?“ Nasruddin entgegnete ungerührt: „Mein Gutester, drinnen ist es zu dunkel, da sehe ich nichts. Hier draußen ist es viel heller, da ist es leichter, etwas zu suchen.“